Zähneputzen mit den Zehen

DIAKOVERE wird Contergan-Kompetenzzentrum

DIAKOVERE wird Contergan-Kompetenzzentrum

Es war nur eine einzige Tablette. Die Mutter von Cordula Reich hat in der Schwangerschaft nur einmal das zwischen 1958 und 1962 sehr populäre Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan eingenommen – mit weitreichenden Folgen. Cordula Reich ist vor 60 Jahren mit stark verkürzten Armen zur Welt gekommen. „Das Präparat hat auch in einer Einzeldosis dafür gesorgt, dass in einem empfindlichen Augenblick das Wachstum vor allem der Extremitäten des Ungeborenen gestoppt wurde“, sagt Prof. Dr. Stephan Martin, Ärztlicher Leiter des Medizinischen Zentrums für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) im Annastift. Bei der 60-jährigen Psychologin waren es die Arme, die nicht weiterwuchsen.

Jetzt wird das MZEB Kompetenzzentrum für Contergan-Geschädigte. Rund 4500 Betroffene, so Prof. Martin, habe es deutschlandweit gegeben – 2500 Menschen mit Contergan-Schädigungen leben noch. Der Facharzt für Orthopädie glaubt, dass viel mehr Ungeborene geschädigt waren – es aber zu spontanen Fehlgeburten kam. „Der Wachstumsstopp konnte ja auch Organe, wie Herz und Lunge betreffen.“ Ultraschalluntersuchungen habe es damals noch nicht gegeben. „Es passiert bei der Entwicklung des Fötus ja vieles parallel“,sagt Cordula Reich. Daher hätten die Contergan-Kinder auch ganz unterschiedliche Beeinträchtigungen – von Herzklappenfehlern über nicht komplett ausgebildete Ohren bis zu einer Schielstellung der Augen.

Schwer zu erforschen

„Es ist schwierig, die Auswirkungen dieser Beeinträchtigungen genauer zu erforschen“, ergänzt Martin. Schließlich gebe es die Fälle nur über einen Zeitraum von vier Jahren – „da gibt es weder Entwicklungen noch Vergleichsgruppen.“ Dabei benötigen Contergan-Betroffene lebenslang eine spezielle Therapie, auch diejenigen ohne Organschäden. Reich etwa meistert ihren Alltag weitgehend mithilfe ihrer Füße. Das wiederum führt zu einer starken Belastung von Bauchmuskeln und Wirbelsäule. „Dazu kommen altersbedingte Verschleißerscheinungen – denen will ich mit den Experten begegnen“, sagt Reich. Niedergelassene Mediziner hätten zum einen wenig Zeit und seien zum anderen auf ihre seltene Behinderung gar nicht eingerichtet. „Das beginnt bei der Blutabnahme oder beim Blutdruckmessen.“

Alles mit den Zehen

Dank des Einsatzes ihrer Eltern ist Reich weitgehend aufgewachsen wie gesunde Kinder – Grundschule, Gymnasium, Studium. „Zunächst habe ich Sozialpädagogik studiert, das war aber körperlich zu anstrengend.“ Dann hat sie eine Verwaltungslaufbahn eingeschlagen, schließlich noch Psychologie studiert und in einer Reha-Klinik mit Schlaganfall- und Multiple-Sklerose-Patientinnen gearbeitet. Eine Armprothese trägt sie selten. Das meiste erledigt sie mit ihren Zehen – egal ob essen, schreiben, Zähne putzen, Maske aufziehen oder stricken. Handarbeiten gehören zu ihren liebsten Hobbys, ihre Socken strickt Cordula Reich allesamt selbst.

„Armprothesen helfen vielen Contergan-Geschädigten nur bedingt“, betont Orthopäde Martin. „Künstliche Hände können nicht fühlen.“ Anders als beim Verlust von Gliedmaßen, etwa durch einen Unfall, haben Menschen wie Cordula Reich Gefühle in den kurzen Armen oder Stümpfen. „Die Nerven können sich andere Verbindungen suchen, sie sind ja da.“ Dass die 60-Jährige mit ihren Füßen umsetzen kann, was ihr mit Händen gezeigt wird, hat übrigens nicht nur etwas mit fleißigem Üben zu tun. „Das ist auch eine Veranlagung und motorische Begabung.“

Im Annastift entwickelte sich in den 1960er Jahren ein wichtiger Versorgungsstützpunkt für Contergan-Geschädigte.

DIAKOVERE wird Contergan-Kompetenzzentrum

Reich hat halbtags eine Pflegeassistenz und seit einiger Zeit auch ihren ersten Therapiehund. Bonnie bringt Sachen, reicht Gegenstände hoch und zieht ihr die Strümpfe aus. „Und Bonnie bringt Sachen, reicht Gegenstände lernt täglich dazu“, so Reich. Ins Annastift fährt die 60-Jährige derzeit rund alle zwei Monate. „Hüften, Muskeln und Füße werden untersucht. „Wie bei Dauerbelastung ein Karpaltunnelsyndrom an den Handgelenken diagnostiziert wird, betrifft das bei Contergan-Geschädigten eben die Füße, die werdendann taub“, erklärt Mediziner Martin. Um diese Beschwerden langfristig behandeln zu können, hat sich das DIAKOVERE Annastift bei der bundesdeutschen Contergan-Stiftung erfolgreich als Kompetenzzentrum für Contergan-Geschädigte beworben. „Wir haben hier viele Fachdisziplinen unter einem Dach – unter anderem Orthopädie, Neurologie, Psychiatrie, Sozialmedizin und Physiotherapie.“

Wunsch nach weniger Bürokratie

Für Cordula Reich ist die Visite für dieses Mal beendet. Sie fährt nach Hause – mit ihrem orangenen Transporter, in den auch ihr Elektrorollstuhl passen muss. Sie kann zwar problemlos laufen – auf Dauer macht da aber mittlerweile der Rücken nicht mehr mit. Im Großen und Ganzen kommt sie gut zurecht, hat aber vor allem einen Wunsch: Die bürokratischen Prozesse mit Krankenkassen oder medizinischem Dienst könnten erleichtert werden. Auch Prof. Martin setzt auf mehr Anerkennung und Unterstützung für die erwachsenen Contergan-Kinder. „Sie gehen schon mit so vielen Handicaps durchs Leben, es wäre schön, wenn nicht noch unnötig Stolpersteine dazukämen.“ Auch eine Aufgabe für das künftige Kompetenzzentrum.

Kontakt

Prof. h.c. Dr. med. Stephan Martin, Ärztlicher Leiter

DIAKOVERE Annastift
MZEB Bruno-Valentin-Institut
Anna-von-Borries-Str. 6
30625 Hannover
Telefon 0511 5354-257 oder -346
MZEB@diakovere.de 


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